15.6. Michael Heidemann/Johannes Bruns: Diskriminiert die Vernunft? Zur postmodernen Kritik des kategorialen Denkens

Der logische Zwang stringenter Beweisführung ist zu unterscheiden vom herrschaftlichen Zwang, einen fremden Willen grundlos gefügig zu machen. Die Unterscheidbarkeit von beidem bildet den Ausgangspunkt der europäischen Philosophietradition, die in ihren Disziplinen der Logik, Metaphysik und Erkenntnistheorie feste Kriterien für die konsistente und zugleich sachhaltige Rede über einen Gegenstand allererst entwickelt. So gehört es etwa zu den fundamentalen Einsichten des Aristoteles, dass jemand, der ‚nicht Rede steht‘, weil er sich an die logischen Axiome wie den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch oder den Satz vom ausgeschlossenen Dritten nicht gebunden sieht und deshalb zusammenhangs- und gegenstandslos drauflosredet, als solcher ‚einer Pflanze gleich‘ sei. Seine Rede ist nicht logos, nicht sinnvoll zusammenhängende Sprache, sondern bloßer unbestimmter Laut.

 

In heutigen postmodernen und dekolonialen Debatten gewinnt der unbestimmte Laut ein scheinbar subversives Potential gegenüber den Zumutungen herrschaftlicher Sprache. Die Ideen der Aufklärungsphilosophie und ihr universeller Vernunftanspruch seien Ausdruck ‚epistemischer Ungerechtigkeit‘ bzw. ‚epistemischer Gewalt‘ und verschleierten letztlich nur den Herrschaftswillen der westlichen Kultur und ihrer männlich-weißen Eliten. Da kategoriales Denken per se und untrennbar mit politischer Gewalt und der Diskriminierung von Minderheiten verbunden sei, wird nicht selten die Forderung nach einem Denken jenseits von Kategorien, Ausschlüssen, logischen Zwängen und Allgemeinbegriffen erhoben. (Westliche) Wissenschaft und Philosophie seien in ihrem fundamentalen Ausschluss des ‚Anderen‘ zu dekonstruieren, um dem gewaltfreien Miteinander den Weg zu bahnen. Begünstigt wird die Annahme, dass die philosophischen Begriffe bereits seit ihren Ursprüngen inwendig mit Herrschaft verbunden sind, durch einige etymologische Auffälligkeiten. So leitet sich etwa das ‚Prinzip‘ tatsächlich vom lateinischen ‚princeps‘ (‚zuerst nehmend‘, ‚in der Reihenfolge der Erste‘) her, womit kein geringerer als der antike Heerführer bezeichnet ist. Das philosophische ‚Subjekt‘ verdankt sich in seiner begrifflichen Genese dem lateinischen ‚subiectum‘, also dem Unterworfenen und Unterwürfigen.   

 

Die Geltung philosophischer Prinzipien ist von deren Genese nicht abstrakt zu trennen, insofern bleibt der Aufweis herrschaftlicher Bedingungen, unter denen das Denken sich entwickelte, zentrale Aufgabe kritischer Theorie. Und dennoch muss denkbar sein, dass die begründete Kritik von Herrschaft nicht selbst wiederum Ausdruck derselben ist, nur weil sie sich logischer Axiome bedient, die unter Herrschaftsbedingungen reflektiert wurden. Der Vortrag möchte deshalb entlang einiger philosophischer Grundbegriffe der traditionellen Logik und Erkenntnistheorie aufzeigen, dass die freiwillige Selbstaufgabe stringenten Argumentierens und Begründens gerade nicht Herrschaftskritik ist, sondern der vorgeblich bekämpften Unterdrückung nur umso mehr zuarbeitet.



Die Veranstaltung ist beendet.