Anastasia Tikhomirova: Offene Briefe für den Frieden
Anastasia Tikhomirova: Offene Briefe für den Frieden. Der russische Imperialismus und seine deutschen Apologeten – Ein Gespräch mit Anastasia Tikhomirova
Am 24. Februar diesen Jahres begann die Invasion der Ukraine durch russische Truppen, die damit den nunmehr ein halbes Jahr andauernden Krieg in Gang setzten. Seitdem wird über Putins geostrategische Motive spekuliert, seine Charakterisierung hierzuande schwankt zwischen eiskalt-kalkulierendem Ex-KGB-Agenten und wahnhaft-faschistoidem Diktator, der von nostalgischen Großmachtphantasien angetrieben wird. Kann vor dem Hintergrund der Invasion von einem neuen russischen Imperialismus gesprochen werden oder verfehlt diese Charakterisierung das Wesen des russischen Angriffskrieges?
Neben den geopolitischen Sachverhalten ist ein weiteres Phänomen von Interesse. Während es einerseits Solidarität mit der Ukraine auf einer breiten Basis gibt, formiert sich auf der anderen Seite eine Melange aus antiimperialistischen Linken, rechten russophilen Autoritätsliebenden und der bürgerlichen Talkshow-Intelligenzija. Bereits im April unterschrieben 28 Künstler und Intellektuelle einen offenen Brief an den Bundeskanzler, der sich gegen Waffenlieferungen und für eine Lösung des “Konflikts” am Verhandlungstisch aussprach. Vor kurzem folgte ein zweiter offener Brief mit dem Titel “Waffenstillstand jetzt!” mit leichten inhaltlichen Verschiebungen, der wesentlich aber dieselbe Botschaft transportiert: “Der Westen muss alles daransetzen, dass die Parteien zu einer zeitnahen Verhandlungslösung kommen. Sie allein kann einen jahrelangen Abnutzungskrieg mit seinen fatalen lokalen und globalen Folgen sowie eine militärische Eskalation, die bis hin zum Einsatz nuklearer Waffen gehen kann, verhindern.“ Man müsse strategisch eine “schrittweise Deeskalation bis hin zum Erreichen einer Waffenruhe” verfolgen. Wie diese Ziele nur durch Wortgewalt erreicht werden sollen, bleibt indes offen. Ist der aggressive Defätismus der notorischen Briefeschreiber schlicht die Rückkehr der Atomangst der 80er-Jahre oder werden dort durchaus ernstzunehmende Argumente hervorgebracht? Schließlich finden sich in der Unterzeichnerliste neben den Hobbyphilosophen Juli Zeh, Alice Schwarzer, Svenja Flaßpöhler oder Richard David Precht auch ernstzunehmende Denker wie der Philosoph Christoph Menke, Filmemacher und Autor Alexander Kluge sowie der Psychoanalytiker Robert Pfaller. Die Plausibilität der Argumente wird nicht zuletzt von einer adäquaten Analyse der Motive und Interessen der russischen Bestrebungen abhängen.