27.7. Steffen Stolzenberger: Desexualisierung in der Queer Theory

Bereits 2003 konstatierte David M. Halperin eine Normalization of Queer Theory. In einem kurzen Artikel führte er den gerade aus heutiger Perspektive nicht mehr zu bestreitenden Erfolg der Queer Theory, sich an sämtlichen Fachbereichen des Universitätsbetrieb wie auch in der außerakademischen Bildung zu etablieren, auf die De-Spezifizierung jener Erfahrungen zurück, die vordem in den Lesbian oder Gay Studies zum Gegenstand gemacht werden sollten: “Queer“ degenerierte zu einem “generic badge of subversiveness“ (Halperin 2003), das nach Belieben in alle Disziplinen aufgenommen und gemäß den in der Projektförderlandschaft des Wissenschaftsbetriebs künstlich generierten Bedarfen ausgedeutet und instrumentalisiert werden konnte.

An diesen Befund anschließend wird im Vortrag die Frage gestellt, welche Konsequenzen die für die genannte Entwicklung konstitutiven post-strukturalistischen (und damit letztlich positivistischen) Prämissen der Queer Theory für die Emanzipation sogenannter sexueller Minderheiten haben, in deren Interesse die Queer Theory Wissenschaft und politischen Aktivismus verbinden zu müssen glaubt und deren besondere Erfahrungen sie zu artikulieren beansprucht.

Diesem Ansinnen muss sich die als Resultat eines Triebschicksals verstandene Sexualität notwendiger Weise entziehen. Im sexuellen Begehren des Individuums drückt sich zwar stets Allgemeines aus, aber insofern es an leiblich vermittelte Erfahrung gebunden ist, muss daran festgehalten werden, dass es zugleich Ausdruck des Nicht-Identischen der leidenden und genießenden Menschen ist, die nicht vollständig individuiert werden können, sondern unaufhebbar Einzelne sind. Anderenfalls wird Differenz als eine zwischen Kollektiven verdinglicht, in denen die Einzelnen nicht zuletzt im Interesse politischer Gemeinschaftsstiftung untergehen. Dann betreibt man „Identitätspolitik“, die besondere Erfahrungen Andersbegehrender produktiv integriert und ihnen damit gerade nicht gerecht wird.

Die Konsequenzen der Bewusstlosigkeit der Queer Theory für dieses Problem werden im Vortrag nicht disziplingeschichtlich, sondern an drei gegenwärtigen Modellen verdeutlicht: die Auseinandersetzung mit der Konkretion schwulen Begehrens, der Umgang mit LGBT-Geflüchteten und die Kritik der Neuen Rechten. In allen Fällen wird dafür plädiert, den gegenwärtigen identitätspolitischen Auseinandersetzungen um Sexualität die Abstraktheit zu nehmen und den Leib nicht zu Gunsten des Körpers zu verleugnen. Erst dann lässt sich, wie Hans Mayer forderte, die „ungeduldige Verlegenheit vor Einsamkeiten“ überwinden und sich ernsthaft mit der Frage befassen, wie die Befreiung jener „Außenseiter“ befördert werden kann, „die als Monstren geboren wurden“.

 

Steffen Stolzenberger studierte Philosophie und Anglistik in Oldenburg. Er promoviert gegenwärtig am Institut für Erziehungswissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zur Kritik an der Kompetenzentwicklung als bildungspolitisches Paradigma und arbeitet als Lehrer in Frankfurt am Main. Im Sammelband „Zugzwänge. Flucht und Verlangen“ veröffentlichte er 2020 den Aufsatz „Queer Refugee Support in der politischen Ökonomie des Helfens. Vom Migrationsmanagement zum metaphysischen Leid“. Zuletzt erschien von ihm 2022 der Text „‚Aufstand gegen die Natur und gegen die Wirklichkeit‘. Zum Homosexuellenhass in der AfD und zur Unredlichkeit ihrer Kritiker“ im Sammelband „Randgänge der Neuen Rechten. Philosophie, Minderheiten, Transnationalität“.

Die Veranstaltung ist beendet.